Folge 4 - Gerda

Shownotes

Hintergrund zur Audio-Story: https://der-figaj.medium.com/tadschu-fae353c4ef80

Webseite: www.tadschu.de

Arolsen Archive: www.arolsen-archives.org

UN-Archive: https://archives.un.org

Stadt Biedenkopf: https://www.biedenkopf.de/de/index.php

"Dreamers"-Podcast des Interkulturellen Zentrums Heidelberg - Interview zu Tadschu-Projekt: https://www.heidelberg.de/1651645

Artikel der Rheinpfalz über "Tadschu": https://www.rheinpfalz.de/lokal/ludwigshafen_artikel,-podcast-tadschu-ein-enkel-erzählt-vom-krieg-_arid,5156779.html?reduced=true

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Folge4

Gerda

P: Man glaubt irgendwann, einen roten Faden zu erkennen. Die Geschichte von einem Menschen. Wenn man sie so ausgebreitet vor sich liegen sieht. Wie einzelnen Kapitel. Ein kleines bisschen ist das auch so. Aber: Unsere Leben verlaufen eben doch nicht nach einem Drehbuch. Viel – vielleicht nicht alles – ist Zufall. Aber wer weiß das schon ganz genau. Manches, das passt dann einfach nicht zusammen. Nicht so, wie man es vielleicht gerne hätte. Weil: Ich hab in den Arolsen Archiven noch ne Zeile gefunden. In den Dokumenten meines Opas. In den CM1 Akten. Eine über Oma. Über Gerda.

P: „Hier ist es. Da. diese zweite Zeile...da Biedenkopf. Und da... 29.5.47 ENTNAZIFIZIERT. ENTNAZIFIZIERT! JA!“

P: In einer Spruchkammer in Biedenkopf.

M: „Sie hat immer nur erzählt, dass sie – klar – war wohl alles normal – so schlimm das heute klingt, in der HJ war, dass sie Fähnleinführerin war. Aber sie ist dann mit 14 J nach F von Biedenkopf. Hat dann ihre Ausbildung als Säuglingsschwester gemacht. Davor gabs noch – Landverschickung – paar Monate. Und direkt im Anschluss – ist sie dann - nach Frankfurt.“

P: Wo sie Opa kennenlernt. Tadschu. Nur ein paar Jahre später. Um die Geschichte meines Großvaters zu erzählen – muss ich auch über Oma sprechen. Aber dafür muss ich in ne ganz andere Richtung. Und erstmal wieder ins Jahr 1950.

P: -INTRO

+ Längere Beschreibung:

P: Das ist die Geschichte meines Großvaters. Tadeusz Sirotkin.  1919 in Polen zu Welt gekommen.

P: Den Krieg hat er unversehrt überlebt. Er wurde heimatloser Ausländer. Seine Heimatland Polen, das hat er nie wieder gesehen. Und trotzdem ist er hier geblieben. Hat sich ein neues Leben aufgebaut. In einer Heimat, die heute meine ist. 

P: Wir - nannten ihn Tadschu. 

P: Dass Opa kaum ein Wort über die Zeit im und vor dem Krieg verloren hat. Das war so. Und auch wenn das irgendwie immer im Raum stand, immer ein Gefühl von Unwissenheit - zumindest bei mir ausgelöst hat - war das bei Oma nie so. Oma war Oma. Gerda. Direkt, ehrlich. Standfest. Wenn ich zurückdenke, dann stehe ich sofort neben ihr. Meistens in der Küche. Das Fenster zur Straße offen. Auf dem Herd köchelt es in einem Blechtopf mit Blumenmuster. Ich auf Höhe der Drehschalter am Herd. Ne blaue Schürze mit Blumenmuster. Es riecht nach Erbseneintopf. Und im Hintergrund rauscht das Küchenradio. Ein gelbes. Viel Platz ist nicht. Aber sie war immer einfach glücklich, solange ich zu Besuch war.

Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem das anders war. Nie. Meine Großeltern waren der Inbegriff von Geborgenheit. Von Familie. Als ob sie beide nie etwas anderes erlebt hätten. Dachte ich. Wo Oma während des Krieges war – die Frage hab ich mir selbst viel zu lange nicht gestellt. Warum eigentlich? Ehrlich gesagt: Ich hab keine Ahnung. Für mich war nur klar – Tadschu und Gerda. Die sind einfach Opa und Oma. Das war mein Naturgesetz. Wie unwahrscheinlich es war, dass die beiden sich überhaupt kennengelernt haben – das weiss ich erst jetzt.

ATMO: Sound Jazz (immer weiter)

P: Das ist Frankfurt. 1950.

M: „Beim Fasching in irgendeinem Offiziersclub, weil der Opa war ja ein sehr sehr guter Tänzer war, da er auch mehrere Instrumente gespielt hat. Trompete, Klarinette.“

P: Meine Mutter Sylvana. Daran erinnert sie sich noch. Auch wenn sie klein war, als die die Geschichte gehört hat. Und ich hab beide gerade erst entdeckt. Auf einem Foto in Omas altem Album. Etwas unscharf. Aber doch deutlich genug: Oma in einem gepunkteten Kleid. Der Rock knapp über den Knien. Opa mit dem Rücken zur Kamera. Von der Decke hängen kleine Wimpel. Der Raum ist voller tanzender Paare. Die Frauen tragen alle diese Kleider, schwingen sie - die Haare lockig. Schulterlang. Die Männer in Hemd und Hose. Ein paar tragen ein Jacket. Mit Militärabzeichen. Die Menschen sind fröhlich – ausgelassen. Da ist richtig gute Stimmung. Das sieht man sofort. Auf den Tischen stehen Gläser mit Bier. Und Cola.

M: „Da denke ich haben sie sich kennengelernt. Clubs und Bars gab es ja in dieser Form nicht. Wie sie da hingekommen sind – ob sie einen Freundeskreis hatte, er sie mitgenommen hat, weiß ich nicht, sie sind viel Tanzen gegangen.“

P: Was für’n Kontrast. Zum Camp Hasenhecke fünf Jahre vorher. Zur Spinnfaser-Fabrik. Zum Zwangsarbeiter. Entwurzelten. Klar – zu diesem Zeitpunkt war vieles nicht klar. Opa in einem Zwischenstadium: Displaced Person. Heimatloser Ausländer. Aber in diesem Moment. In diesem Club. War das alles nicht wichtig. Für beide nicht.

M: „Sie haben sich in unserem Beisein nie über ihr vorheriges leben unterhalten. Sie haben immer nur gesagt: Sie haben sich getroffen, sie haben sich gesehen. Und für beide war’s sofort die große Liebe. Und sie wussten, dass sie um alles in der Welt zusammen bleiben wollen. Das haben sie gesagt.“

P: Tadschu ein Civilian Guard. Bei den US-Amerikanern. Er pflegt, putzt, kümmert sich in dieser Zeit um Waffen und Munition. Hält Wache, auch in der Nacht. Bis zu eben dieser Nacht, in dem ihm sein Zeh einfriert. Oma – Gerda eine Krankenschwester. Seit knapp 10 Jahren ist sie zu diesem Zeitpunkt in Frankfurt. Sie ist 23. Er 31. Und: Sie beginnen ihr Leben zu genießen. Um alles andere hinter sich zu lassen. Wie so viele in dieser Zeit.

P: ATMO (Schreibmaschine)

T: „Regelung der Lebensführung:

Die polnischen Zivilarbeiter unterliegen aus Sicherheits- und volkstumspolitischen Gründen folgenden Beschränkungen:

P: Noch einmal ein Blick in die sogenannten Polen-Erlasse. Zur Erinnerung: Sie stammen aus dem Jahr 1940 – hier in der Ausführung von 1943. Und dann gibt ed diesen ganz speziellen Abschnitt:

T: „7.) Dem Verbot des näheren Umgangs mit Deutschen.

T: Verstöße gegen Ziffer 7 werden in schwereren Fällen durch staatspolizeiliche Maßnahmen geahndet. Die betreffenden Personen sind der zuständigen Staatspolizeileitstelle unverzüglich zu melden sowie erforderlichenfalls – insbesondere bei festgestelltem Geschlechtsverkehr – sofort festzunehmen.“

P: Das galt bis Kriegsende. Während sich Oma und Opa tanzend in einem Frankfurter Jazzclub näherkommen, muss die Erinnerung daran noch ziemlich klar sein. Wenn sie es wussten. Und das taten sie, da bin ich mir sicher. Nur fünf Jahre vorher hätten sich beide nicht treffen dürfen. Sie hätten sich schon gar nicht zum Tanzen verabreden dürfen. Und heiraten? Krass ausgedrückt: Sie hätten das wahrscheinlich beide nicht überlebt.

P: // Gedicht (Teil1/3)

P: Manchmal gibt es ein Flüstern, es klingt wie ein Traum, eine Welle, Glück scheint dann in weite Ferne zu rücken, als ob es davonließen will…

P: Um sich auf der ganzen Welt auszubreiten.

P: Aber nichts ist für immer.

P: Genau das ist de ist traurige Stoff für einen Film. Den es gibt. 1983 verfilmt Andrej Wajda Rolf Hochhuths Buch „Eine Liebe in Deutschland“. Das Buch erscheint 1978. In dem Buch lernen sich 1941 eine Deutsche und ein polnischer Zwangsarbeiter kennen. Sie lieben sich. Sie werden verraten. Er wird verhaftet und erhängt. Sie ins KZ gebracht. Bekannt wird das Buch aber nicht deshalb. Sondern weil es die Filbinger-Affäre ausgelöst hat. Das ist mittlerweile etwas in Vergessenheit geraten: Aber das ist in dem Zusammenhang ganz interessant. Dabei stand der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg im Fokus: Hans Filbinger. In dem Buch geht es um Todesurteile – und Hochhuth hatte Filbinger einen – ZITAT - „Furchtbaren Juristen“ genannt, weil er in der NS-Diktatur als Marine-Richter an Todesurteilen beteiligt war. Und zwar noch bis Kriegsende. Als längst klar war: Deutschland hat verloren. Im Kern ging es darum, dass Filbinger Matrosen in vier Fällen zum Tod verurteilt hat. Im bekanntesten Fall wegen Fahnenflucht. Am Ende kostet es Filbinger das Amt, nicht wegen der Urteile, sondern weil er seine wie auch immer geartete Schuld nicht ansatzweise eingesteht. Zuletzt in einem ZDF Beitrag zu hören:

F: „Es gibt keine Schuld einzugestehen.“

P: Das ganze hatte Ende der 70er aus mindestens zwei Gründen so einen Staub aufgewirbelt: Erstens sind Archivarinnen tief in die Materie eingetaucht und haben vermeintlich Unbekanntes aus der Zeit der Nazis zu Tage gefördert. Die Schuld vieler wird sichtbarer. Was zweitens vor gut 40 Jahren überhaupt noch nicht aufgearbeitet war. Ganz im Gegenteil: Die Verbrechen der Nazis und vor allem die vielen Unsichtbaren Opfer kamen erst ganz ganz langsam und zäh ans Licht. Und Täter und Mitläufer wurden benannt. Was bis heute nachwirkt.

P: // Gedicht (2/3)

P: Das Leuchten der Sterne erlischt. Ein Leben, umgeben von Nebel.

P: Wie eingehüllt. Das Auge findet einfach keinen Halt.

P: Mich hat diese Geschichte wegen der Nähe zu Tadschu und Gerda gepackt. Unter anderen Vorzeichen. Klar. Aber die Geschichte zeigt, welche Schicksale Aufmerksamkeit erzeugen. Die eigentlichen Protagonisten des Buches sind es nicht gewesen. Diese Geschichte kennt heute kaum jemand mehr. Aber sie hat so viele Parallelen zu der von Oma und Opa – zum Glück für beide im Positiven. Denn wären sich früher begegnet, hätten sich früher geliebt. Sie hätten sich unter komplett anderen Vorzeichen kennengelernt. Oder wahrscheinlich gar nicht. Und ich hätte diese Geschichte nie erzählt.

P: Und das alles zeigt mir im Kleinen, wie schizophren, grotesk und wie grausam menschenverachtende Paragraphen waren, die so etwas verhindern sollten. Durch einen totalitären Apparat, der schon die Jüngsten für sich gewinnen wollte. Das war der Plan.

D: „Die Mädchenerziehung im Bund Deutscher Mädel (BDM), dem weiblichen Teil der HJ, war vorwiegend ausgerichtet auf eine - wiederum durch „Volkstum und Rasse“ begründete – Rolle der Frau als Gebärerin und Pflegerin.“ - Verführt und verheizt - Der Spiegel

M: Aus dieser Zeit hat sie nichts erzählt. Kein Wort.

P: Da ist der Satz wieder. Aber jetzt wirkt er anders. Wenn er auf Oma bezogen ist. Und ich merke im Verlauf dieser Recherche, dass es Für mich auch etwas ganz anderes ist, mich damit auseinanderzusetzen. Vor mir auf dem Tisch liegen Fotos meiner Oma – sie ist noch ein Kind. Trägt eine weiße Bluse, ein gebundenes Tuch um den Hals, geknotet wie bei Pfadfindern. Ihre dicken, schwarzen Zöpfe hat sie links und rechts über die Schultern gelegt.

M: „Diese Zöpfe, das war natürlich so eine Geschichte. Was? Immer dick, beide Seiten. Da war auch ein gewisser Stolz. Dunkles, schwarzes Haar.“

P: Auf der Bluse Anstecker, Aufnäher. Sogenannte Gebiets-Armabzeichen. Ich hab mir die Schwarz-weiß Bilder in den vergangenen Monaten auf diesem schwarzem Karton immer wieder angeschaut. Jedes Mal entdecke ich neue Details. Je mehr ich lese, desto mehr verstehe ich. Die Fotos sind mit Kreidestift beschriftet. Es gibt diese Portrait-Bilder von ihr im Abstand mehrerer Jahre. Mal ist ihr Blick streng, dann gelöst, freundlich. Seitenweise Fotos – zwischen 1938 und 41 aufgenommen. Vielleicht auch später noch. In Schönschrift steht hier: Ein Plauderstündchen. Volkstanz. Lagerführerin. Großfahrt.

Es sind Gerdas Jahre in der Hitlerjugend. Genauer: Beim Jungmädelbund.

M: „Sie hat nichts erzählt. Also das ist mir total fremd. Erst jetzt wenn ich die Bilder mir mal bewusster ansehe: Sie hat das komplett verdrängt, oder verschwiegen. Aber: Ich denke es war ihr einfach unangenehm.“

P: Ich kann das heute nicht mehr beantworten. Ich kann mir nur anschauen, was war. Und wie sie war.

P: Und ich gebs zu – mir fällt das nicht leicht, die Perspektive hierhin zu lenken. Ich kann die NS-Zeit aus Tadschus-Sicht sehen, seinen Weg nachfühlen – eine dunkle, unfaire, menschenverachtende Zeit. Aber will ich sie überhaupt aus Gerdas Perspektive sehen? Teilweise gelöst, in angenehmen Ausflugsbildern? Nadelbaumlandschaften und weite Hügel. Lachende Gemeinschaften. Und natürlich weiß ich – es gibt da kein entweder oder. Es geht nur beides. Alles hat zwei Seiten. Und man muss sich auch die dunklere ansehen. Um zu verstehen.

Ich weiß: Sie hat als ich klein war, in Kleiderkammern Pullover, Jacken, Hosen und Decken für Bedürftige gesammelt und sortiert. Ständig. Immer und immer wieder. Sie ist da penetrant gewesen. Trat als Sozialdemokratin für Missstände ein. Wie das zusammenpasst? Ich hab keine Ahnung. Ich kann mir heute nur noch ihre Geschichte anschauen. Und was die Zeit aus ihr gemacht hat.

D: "§ 1 Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefasst.“

P: Das ist der erste Paragraph aus dem Gesetz über die Hitlerjugend – die Nationalsozialisten haben es im Dezember 1936 erlassen. Andere Jugendbünde traten erst in den Hintergrund – dann wurden sie ganz verboten. In der HJ zu sein, das wird zur Pflicht, zum Zwang. Auch als Mädchen. Als junge Frau. Die NS-Propaganda-Maschine will so TIEF in die Gesellschaft eingreifen. Und zwar bis hinein in die Familien. Das ist der Plan, um den totalitären Anspruch im Keim zu verankern. Die Vordenker dieser Idee - die sind dicht an den Machtapparat angeschlossen. Nichts soll dem Zufall überlassen werden.

P: Und deshalb gabs dann auch diese straffe Organisation – beispielsweise im Jungmädelbund.

D: „Der Jungmädelring. Die Jungmädelgruppe. Die Jungmädelschar. Und die Jungmädelschaft.“

P: Den Jungmädelbund – den hatte ich bei Bergriff Hitlerjugend gar nicht so auf dem Schirm. Ich jedenfalls hab da immer zuerst Jungs in Kopf, die bis zum bitteren Ende kämpfen wollten oder mussten. Aber für die Mädchen, die jungen Frauen gab es exakt nochmal so eine Struktur – nur unter anderen Vorzeichen. Ab 10 Jahren gings los. Als Jungmädel. Für Gerda wahrscheinlich 1937.

D: „Soziale Abstände, Stadt-Land-Unterschiede oder geschlechtsspezifische Differenzen schienen beiseitegeräumt.“

P: So beschreibt ein Spiegel Artikel die Wirkung der Hitlerjugend auf junge Menschen im Dritten Reich. Wobei auch immer wieder anklingt: Besonders junge Frauen waren nicht unbedingt angetan vom BDM – dem Bund Deutscher Mädel. Oder dem Jungmädelbund. Deshalb auch der Zwang ab 1936. Dazu kam dann, dass alle anderen Jungendverbände verboten worden sind. Das perfide allerdings – die Masse reißt auch hier mit. Hat blind gemacht, oder Sinne und Wahrnehmungen getrübt...

P: Ich tue mir unglaublich schwer damit, das zu beurteilen. Meine Oma ist deutlich später als mein Opa gestorben. Sie hat mich noch im Radio gehört. Hat sich immer einen kleinen Lautsprecher ans Ohr gehalten. War stolz. Fand das toll, was ich mache. Und ich bin froh, dass sie das noch miterleben konnte. Aber über ihre Vergangenheit? Haben wir beide nie gesprochen. Obwohl ich sie gestreift habe. Mehrfach. In Biedenkopf – Mittelhessen - wo sie aufgewachsen ist. Ein Ort, der mir immer fremd geblieben ist.

M: „Sie wurde ja 1927 geboren. In Biedenkopf. Mit 14 hat sie dann erfahren, dass sie nicht bei ihrer leiblichen Mutter aufgewachsen ist.“

P: Das ist so ein Fragment, was meine Mutter da erzählt. Ich wusste das, aber ich hab’s vergessen. Man vergisst so vieles, wenn man nicht nachfragt, sich das nach Jahren mal wieder ins Gedächtnis holt.

M: „Biedenkopf war ein kleines Dorf. Der spätere Ehemann ihrer leiblichen Mutter hatte dort ein Fachwerkhaus. Und sie ist dann oberhalb dieses Fachwerkhauses in direkter Sichtweise zum Grundstück bei ihrer Tante aufgewachsen. Die damals glaubte, dass sie keine Kinder bekommen kann. Und die hat dann von ihrer jüngeren Schwester die Gerda als ihr leibliches Kind angenommen.“

P: Ich hab die steile Gasse, das verwinkelte Treppenhaus, die Linoleumböden dort noch genau im Kopf. Enge Zimmer, zu dunkle Flure. Schweres Holz. Uhren, die irgendwie langsamer tickten. Das ist totaler Quatsch. Aber so merkt man sich das, wenn man nur als Kind dort war.

M/P: „Und dann gab es diesen Grenzgang. Alle 7 Jahre. Frühere Grenzen mit Burschenschaften abgelaufen. Kartoffelfeuer. Traditionelles Fest. Opa auch. Alle hingefahren. Luft gewirbelt mit 2 Jahren.“

P: Ein skurriles Fest was - keine Frage – seine Berechtigung hat. Aber es ist schon ziemlich eigen. Kurz gesagt: Im späten 17. Jahrhundert gabs immer wieder Streit um Stadtgrenzen. Und deshalb sind diese Grenzen abgegangen worden. Daraus hat man später ein Fest gemacht. Sehr traditionell. Man kann sagen antiquiert. Wir mal mittendrin in den 80ern, als völlige Laien. Zufällige Gäste. Irgendwann dann nicht mehr. Und dann hat das Fest keiner mehr erwähnt. Weg. Vergessen. Aber diese Gemeinschaft – irgendwas hatte Gerda da doch geprägt.

M: „Sie hat... in dem Zusammenhang. Sehr sportlich. Gruppen. Riegen. Vorne dabei. Mit Stolz. Später nach dem Krieg üppig. Aber sehr stolz. Aber. Dass sie auch mal sportlich war...herausragend, das hat sie mit Stolz erzählt.

M: Dass sie damit unterwegs war, hat sie nie erwähnt. Ich denke mal dass das dann mit der Erkenntnis, wie das damals war, dann war ihr das zuwider und unangenehm. Nicht thematisiert.“

M: SOUND SPORT

T: Each group have their own schedule, worked out in minute details, and supervised by their respective leader. Hiking, camping, meetings, sport etc.

P: Das ist ein Auszug aus den Studies of Migration and Settlement. Im Auftrag der US-Regierung in den 1940ern zusammengetragen. CONFIDENTIAL – Geheim. Steht auf den Dokumenten. 50 Exemplare, auf verschiedene Lebensbereiche bezogen. Zum Beispiel auf die Organistion der Jugendgruppen. Die Rolle der Frau im Dritten Reich – mehr als 100 Seiten Ideologie, Training, Organisation – fein auseinandergenommen und analysiert. Dokumente aus dem Sommer 1944 – in den UN Archiven in New York abgelegt.

T: “The Hitler Youth is responsible for the political indoctrination of the girls. The smallest unit is the Maedelschaft, a group of 15 girls, either comprising the girls over 14 or the girls under 14, the latter called the Jungmaedelschaft.”

P: Mit der Oma unterwegs ist. Auf der Kaiser Wilhelm. Im Hochsauerland. Auf der Weser. Am Hermannsdenkmal. Hakenkreuzbanner an langen Fahnenstangen werden im Wind geschwungen. Auf riesigen Landkarten planen Gruppenführerin und die anderen Jungmädel ihre anstehende Großfahrt. Was mich stutzig macht. Denn ich lese auch: Nur die wenigsten Mitglieder in der HJ waren überhaupt je auf einer Großfahrt. Gerade mal 21.500 der BDM-Mädchen bis 1937. Wichtig waren die Bilder – um mit ihnen Propaganda zu machen. Bis hin zu eigenen Radiosendungen. Der Mädelfunk, mit Rundfunkspielscharen. Es ging um die Partei. Und es ging um den Alltag. Das war das oberste Ziel. Das ist in diesen Sendungen vorgelebt worden. Um Mädchen zu prägen.

T: „… to be physically healthy and strong, and to become the mothers of the future Nazi Generation.”

P: Die Mütter. Künftiger Nazi-Generationen.

P: Auszug BDM

M: „ich weiß dass sie von Erbseneintöpfen – immer – dicke fette Erbsen. Mit Speck. Nicht püriert.“

M: Oma war ein winziger Teil dieser Gruppe. Wie viele, Millionen anderer Mädchen und Frauen, die gleichgeschaltet warden sollten. Das liest sich heute wie die Anleitung zur Willenlosigkeit. Was nicht wirklich geklappt hat. Die Bandbreite, das lässt sich mittlerweile ziemlich gut nachvollziehen, reicht zwar von BDM-Gruppen, die Konzentrationslager besucht haben … sie führt auf der anderen Seite aber bis hin zu Menschen, die aus verschiedensten Gründen von diesem Apparat nicht gepackt wurden. Sich wehrten. Sich trotz großer Schwierigkeiten irgendwie versteckten. Oder kaum Berührungspunkte hatten. Gerda hatte zumindest einen, der ihr künftiges Leben entscheidend verändern sollte. Ihre Zeit als Säuglingsschwester.

M: TRENNER LANG

Das ist kein Thema, das besonders im Fokus steht – das fällt auf. Ich kann nur eins heute sicher sagen: Dass Oma in einem Frankfurter Krankenhaus gelandet ist, und dass sie mit 14 eine Ausbildung als Krankenschwester angefangen hat – das ist nicht mit heute zu vergleichen. Sie wird das in der Mädelschaft mitbekommen, oder nahegelegt bekommen haben. Wie sie die Zeit vom Krieg gezeichneten Frankfurt erlebt und überlebt? Ich weiß es nicht. An dieser Stelle fehlt mir bis heute jegliches Dokument, es gibt keine Erinnerung – und keinen Satz, den Oma je zu meiner Mutter gesagt hat. Ich glaube, sie war durch ihre Herkunft weit eintfernt davon, dem Wahn der NS-Schwesternschaft verfallen zu sein. Ein dunkles, total unbeleuchtetes Kapitel dieser Zeit. Dafür war sie zu hilfreich, und später zu modern. Zu weltoffen. Aber natürlich sagt sich das leicht. Ich weiss es einfach nicht.

Das ist kein Thema, das besonders im Fokus steht – das fällt auf. Ich kann nur eins heute sicher sagen: Jazz-Clubmusik

P: 31:10 Haben sich darüber unterhalten?

M: „Ich glaube die beiden wussten voneinander, weil sie immer offen und ehrlich miteinander umgegangen sind, in jeder Beziehung. Deswegen würde es mich wunder, wenn sie nicht darüber gesprochen haben. Sie kannten ihre Vergangenheit. Später nie mehr darüber unterhalten, weil das nicht wichtig war.“

M: // Gedicht (3/3)

M: Nur die Hand eines Freundes, die ist da.

M: Sie bleibt. Und gibt dir Halt.

P: Gerda fand Halt in einer Gruppe. Aufgewachsen in einer liebevollen Familie. Aber mit gebrochenem Herz. Ihr Vater – ist ein anderer als sie glaubte.

P: Im weiten Kreis sitzt sie auf einem kleinen Foto in einem gepflasterten Innenhof vor einem Fachwerkhaus. Sie muss ganz frisch beim Jungmädelbund sein. Alle Mädchen sind noch sehr jung, die Gruppenführerin auf diesem Foto ist viel älter – im Verhältnis. „Abmarsch nach Kassel“ – steht unter diesem Bild. Es ist wohl Sommer 1940. Nur ein paar Kilometer weiter lebt seit kurzem ein junger Pole. Unter Zwang arbeitet er an großen Maschinen. Noch dauert es ein paar Jahre, bis sie sich begegnen. Vielleicht war es ja auch – beim Sport.

M: „Weiß ich nicht. Er hat immer nur erzählt er hat geboxt. Er war Boxer, er war Kanute. Und er hat getanzt. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er auch in einem Nationalballett getanzt...irgendwo herkommen?“

P: Tanzen. Und der Sport. Das könnten ihre verbindenden Elemente gewesen sein. Über alles andere hinweg. Sie – eine deutsche Krankenschwester. Und er: Ein sportlicher polnischer Mann. Displaced? Was ist schon ein Stück Papier? Entwurzelt, heimatlos? So geht es Millionen nach dem Krieg. Das ist Frankfurt. Er – Oberkörperfrei – den Blick auf Ruinen der Stadt gerichtet. Und dann wieder von unten in einem Boxring fotografiert. Der Helm des Civilian Guard liegt an den Seilen. Ein muskulöser Rücken. Ein Mann im Anzug neben einer Litfaßsäule. Der Zoo. So viele neue Möglichkeiten. Die junge Frau aus Biedenkopf und der Mann aus Lodz hatten sich gefunden. Das war alles, was zählt. Und für mich? Alles was zählte, war, dass sie meine Großeltern waren.

Aber diese Geschichte mit dem Kanuten. Die sagt mir noch was. Ich erinnere mich an eine Situation am Schreibtisch. Ich bin wieder fünf. Sechs Jahre alt. Ende der 80er. PZK. Das steht auf einem vergilbten Pass mit mehreren Seiten. Vorne aufgedruckt: Ein rot-weißes Wimpel. Er hat mir davon erzählt. Ich habe diesen Pass noch. Ich wusste nur nicht dass er ein Schlüssel ist.

Aber diese Geschichte mit dem Kanuten. Die sagt mir noch was. Ich erinnere mich an eine Situation am Schreibtisch. Ich bin wieder fünf. Sechs Jahre alt. Ende der 80er. PZK. Das steht auf einem vergilbten Pass mit mehreren Seiten. Vorne aufgedruckt: Nach Tomasczow. Großraum Lodz. Auf der zweiten Seite unten steht seine Adresse. Seine Anschrift im April 38. Noch ist er in Polen. Zum Sportclub ist es nicht weit. Eine weite, gerade, staubige Straße entlang. Tomascow. Großraum Lodz. Damals eine Hochburg der Textilindustrie. Nazi-Deutschland hatte längst ein Auge drauf geworfen. Ein paar Monate noch.

Aber diese Geschichte mit dem Kanuten. Die sagt mir noch was. Ich erinnere mich an eine Situation am Schreibtisch. Ich bin wieder fünf. Sechs Jahre alt. Ende der 80er. PZK. Das steht auf einem vergilbten Pass mit mehreren Seiten. Vorne aufgedruckt: Das wird Tadschu die Heimat nehmen. Die er gerade zum ersten Mal überhaupt auf eigenen Beinen kennenlernt. Denn er kommt nicht von hier.

Aber diese Geschichte mit dem Kanuten. Die sagt mir noch was. Ich erinnere mich an eine Situation am Schreibtisch. Ich bin wieder fünf. Sechs Jahre alt. Ende der 80er. PZK. Das steht auf einem vergilbten Pass mit mehreren Seiten. Vorne aufgedruckt: Nächstes Mal.

Aber diese Geschichte mit dem Kanuten. Die sagt mir noch was. Ich erinnere mich an eine Situation am Schreibtisch. Ich bin wieder fünf. Sechs Jahre alt. Ende der 80er. PZK. Das steht auf einem vergilbten Pass mit mehreren Seiten. Vorne aufgedruckt: Abspann.

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